Das Bedürfnis nach Kontrolle loslassen
Lange Zeit meines Lebens war ich in vielen Bereichen meines Lebens darauf ausgerichtet, ein bestimmtes Ergebnis zu erhalten. Im Laufe der Zeit haben sich immer festere Vorstellungen davon ergeben, was ich brauche, um glücklich zu sein, was Zufriedenheit bedeutet, was ich leisten muss, um in meinen Augen gut genug zu sein. Viele dieser Vorstellungen rührten aus den Konditionierungen meiner Kindheit und den gesellschaftlichen Ansprüchen oder wurden durch bisher Erfahrenes geprägt. Oft war mir dieses festgefahrene Netz aus Bildern in meinem Kopf nicht bewusst. Ich merkte gar nicht, wie sehr es meinen Alltag prägte, immer auf etwas hin zu arbeiten oder meinen mir selbst auferlegten Regeln gerecht zu werden.
Immer häufiger fühlte ich in letzter Zeit, wie oft sich Widerstände in mir meldeten, manchmal kaum hörbar, manchmal so stark, dass ich sie körperlich spürte, wenn etwas wieder einmal nicht so lief, wie ich es in meinen Vorstellungen haben wollte. Wenn ich mir selbst und meinen Ansprüchen nicht gerecht werden konnte. Wenn meine kleine Tochter meine so minutiös gefassten Pläne durchkreuzte. Wenn mein Partner sich anders verhielt, als es in das Konzept meines Verstandes passte, in die Bilder, die ich von einer liebevollen Partnerschaft hatte. Wenn ich meinen mir selbst auferlegten Haushaltsplan durch unvorhersehbare Ausgaben nicht einhalten konnte. Wenn die Ordnung zu Hause durch ein Chaos verursachendes Kleinkind völlig auf den Kopf gestellt wurde, wenn ich doch gerade diese Ordnung mit aller Macht aufrecht erhalten wollte. Ja die Liste könnte ich unendlich erweitern um so viele Situationen, in denen starke Widerstände, Schmerzen, Wut oder auch Angst mich so vehement auf etwas aufmerksam machen wollten, was ich einfach nicht sehen wollte: Ich war versessen darauf, mein Leben, vom Großen bis ins Kleinste kontrollieren zu wollen.
Die Angst vor dem Fluss
Dadurch, dass ich seit einiger Zeit immer wieder Momente der Stille suche, um den Kontakt zu mir und meinem Inneren zu fühlen, stellte sich zunehmend ein Bewusstsein dafür ein, was all diese Situationen gemeinsam hatten. Ich erlaubte es dem Leben nicht, sich zu zeigen, sich mir in all seiner Schönheit und in seiner Chance auf Wachstum und Heilung zu offenbaren. Ich war allzu sehr gefangen in den Vorstellungen meines Verstandes und dem Irrglauben, wenn ich nur die Kontrolle über die verschiedenen Bereiche meines Lebens behielte, die von mir gewünschten Ergebnisse erzielen zu können. Dabei merkte ich gar nicht, dass genau dieses Festhalten an meinen Vorstellungen den Fluss meines Lebens hemmte und zeitweise zu erheblichem Energieverlust führte und mich auch von meiner Herzensliebe trennte.
Oft ist es Angst, die hinter unserem Festhalten steht, denn etwas kontrollieren zu wollen bedeutet ja, Angst davor zu haben, was passieren würde, wenn wir unsere Kontrolle aufgeben. Es ist die Angst, uns selbst zu verlieren, die Angst, was danach kommt. Bei unserer Angst beziehen wir uns immer auf bisher Erlebtes, meist auf negative Erfahrungen in Bezug auf ähnliche Lebenssituationen, immer in der falschen Vorstellung verhaftet, wir könnten durch unsere Kontrolle verhindern, dass wir vergangene schmerzhafte Erfahrungen wiederholen. Und dabei finden wir uns immer wieder in diesen alten, negativen Emotionen wieder, gerade weil wir versuchen, sie so vehement zu vermeiden.
Dabei ist gerade das Loslassen die Zauberformel dafür, Raum zu schaffen für neue Erfahrungen, die Wiederholung desselben uralten Musters zu durchbrechen. Unserem Schmerz und all den anderen mehr oder weniger existenziell bedrohlichen Emotionen den Raum zu öffnen, gesehen, gefühlt und aufgelöst zu werden. Mir hat das Leben auf so vielfältige und eindringliche Weise die Botschaft zukommen lassen, dass es Zeit ist, die alten Bilder und Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, auch wie ich zu sein habe, all diese alten Glaubenssätze nach und nach aufzugeben.
Hingabe an das Leben
Dieses Aufgeben birgt auch gleichzeitig die absolute Hingabe an das Leben in sich, weil ich nicht weiß, was mich als Nächstes erwartet. Es ist auch ein Loslassen all meiner Vorstellungen von Sicherheit, in der Realisation, dass jegliche Sicherheit in unserem Leben eine Illusion unseres Egos ist. Wir denken, dass wir durch verschiedene Handlungen und Strategien in unserem Leben diese Sicherheit gewährleisten können, aber es handelt sich dabei um eine Lebenslüge, die unserer Seele dass so sehr ersehnte Wachstum verwehrt und es uns unmöglich macht, uns selbst zu erkennen. Erst durch die Hingabe an all dass, was gerade ist, in jedem einzelnen Moment und vor allem in den Momenten, wo sich unsere Ängste am lautesten melden, können wir neue Wege kreieren, indem wir Altes loslassen. Mit einmal entsteht der Raum für völlig neue Lebenserfahrungen, für neue Begegnungen mit mir selbst und anderen, entwickelt meine Beziehung eine Tiefe, dich ich nicht für möglich gehalten hätte, spüre ich die Liebe zu meinem Kind oft intensiver als je zuvor.
Es ist ein absoluter Sprung ins kalte Wasser, ich erlebe es jeden Tag, in Kleinen wie im Großen. Jeder Tag enthält für mich so viele Aufforderungen, meine Kontrolle und meine alten Vorstellungen aufzugeben, dass ich oft gar nicht hinterher komme. Aber ich habe die Botschaft des Lebens verstanden. Es ist uns erst möglich, wirklich an die tiefste Quelle unserer Energie und an die vielen Momente der Heilung heranzukommen, wenn wir aufhören, unser Leben kontrollieren zu wollen. Wenn in uns ein Vertrauen wächst, was sich weit über die Vorstellungen, Begrenzungen und Bilder unserer Gesellschaft, unserer Kindheit, unserer bisherigen Erfahrungen erhebt – das Vertrauen ins Leben, unser Leben und darin, dass alles so, wie es gerade IST, gut ist.
Bilder: Hände: Luisfi; Hand mit Blatt: AgnosticPreachersKid